Automatisch makaber
20.06.2009 in: Politik und Sprache • 10 Kommentare
Letzte Änderung: 14.07.2009, 22:13 Uhr.
Vorhin hat Enno bei Twitter einen Link gepostet zu einem Video auf Facebook, das die grausamste Seite der aktuellen politischen Situation im Iran zeigt: Eine Frau stirbt. Diese Augen. Diese Augen!
Jetzt frage ich mich, warum ich da überhaupt draufgeklickt habe. Ich habe schon mehr als genug Gewalt erlebt. Das hat mich nicht abgehärtet. Im Gegenteil.
Doch das ist meine Sache. Von breiterem Interesse dürfte eine Funktion bei Facebook sein, mit der man einen Beitrag »merken« kann. Das Resultat sieht dann so aus:
Im sterilen Layout Facebooks mag man sich wie in einer sicheren Welt vorkommen. Man zeigt nur, was einem gefällt. Daß man etwas nicht mag, ja ganz und gar verabscheut – das paßt dort nicht hin.
Ich halte ohnehin wenig von Facebook und vergleichbaren Diensten – die vorstrukturierten Kommunikationsformen sagen mir nicht zu, und ich will meine Daten nicht noch weiter verstreuen. Das sind das recht abstrakte Gründe.
Aber das Grauen, das ist konkret.
Andreas Hecht am 20.06.2009 · 21:53
Hi Thomas,
habe selbstverständlich bereits viel über Facebook und Konsorten gehört, nur der Sinn sich bei einem solchen Dienst anzumelden erschliesst sich mir nicht. - Hab mich bereits mit Twitter schwer getan, mich aber von Macx überzeugen lassen.
Was soll man jetzt aus dem Facebook Screenshot schliessen? Das 30 Personen das Grauen im Iran gefällt? Das die Welt überwiegend von Osi-Layer-8 Kandidaten bevölkert ist?
Sorry, sowas find ich einfach echt nur daneben, genauso daneben wie Gewalt an sich.
Gruß, Andreas
Thomas Scholz am 20.06.2009 · 22:16
@Andreas Hecht: Aus dem Screenshot kann man schließen, wie wenig das tatsächliche Leben ins Korsett eines der größten »Social Networks« der Welt paßt.
»Sozial« schließt eben auch das ein, was man nicht haben will. Darauf sind viele Internet-Communities noch längst nicht vorbereitet. Und solange diese Kluft besteht, solange werden sie auch nicht ins richtige, schmutzige Leben zurückwirken können.
Wenn wir uns mit unseren »Internetproblemen« in der Welt der Dinge durchsetzen wollen, werden wir auch das berücksichtigen müssen, denke ich.
Andreas Hecht am 20.06.2009 · 22:55
@Thomas Scholz: Müssen scheint mir das Stichwort zu sein. Es muss einfach ein Weg gefunden werden, wie wir aus unserer "heilen kleinen Internetwelt" seriös und kompetent eine Masse an Bürgern von realen Problemen überzeugen können.
Seit heute weiß ich nichtmal, wen ich noch wählen soll. Die letzte mir logisch erscheinende Möglichkeit hat sich gerade selbst ins Aus befördert.
Ute am 21.06.2009 · 00:00
Denk Link mit Hinweis auf eine Frau die stirbt, habe ich auch gesehen. Ich hatte grad einen lichten Moment und beschloss, dass weder mir noch sonst jemand hilft, wenn ich mir das ansehe.
Facebook verweigere ich bisher erfolgreich, weil es mich nervt, dass das schon beim Anmelden das Geburtsdatum ein Pflichtfeld ist. So ab und zu gabs schon mal irgendwo einen Link dorthin, der mich interessierte aber so wichtig war mir bisher noch nichts, dass ich mich anmeldete.
Dein Screenshot und der Beitrag bestätigen für mich gerade, dass ich dort bisher zumindest nichts finde, was ich unbedingt brauche.
GwenDragon am 21.06.2009 · 14:47
So ein Facebookeintrag hat etwas gruselig voiyueristisches. Sicher. Es widerspricht auch unserer Kultur Sterben auszublenden.
Leider wird so ein Video einer totgeschlagenen Demonstrantin den Menschen im Iran nicht helfen, dazu gibt es dort zu viel Gewalt, von denen hier niemand was wissen will. Solche Bilder sind zu kurzlebig.
Ich finde, dass Web 2.x einfach zu steril und clean geworden ist. Hauptsache es ist modern, cool, das zählt.
Und so ist das neue Medium Web eben wie in der Gesellschaft auch zu sehen, kalt und gefühllos geworden. Ein Medium, in dem oft nur noch die Meldung zählt, egal ob wahr oder nicht.
Ich bin weder in Besitz eines Twitter-Accounts noch sammele ich Bilder bei Facebook. Selbst Dienste wie delicio.us, MrWong oder identi.ca verschmähe ich. An FOAF erkrankte ich bisher auch nicht.
Ja, nur zum Bloggen habe ich mich vor Jahren hinreißen lassen – als eine Art mehr oder weniger persönlichen Selbstausdrucks.
Viele Menschen reagieren auf solche Meldungen wie bei Twitter oder Bilder auf Facebook eben zutiefst schimpansenartig. Die angesehene Gewalt regt auf, erregt. Auch das ist trendy. Boulevardblätter leben auch von solchen Mechanismen, warum nicht so manches Webmedium?
Was Informationen anbelangt, ist es immer mühsam und schwierig an mehr zu kommen als nur Newszeilen bei Yahoo oder getwitterte Meldungen. Das kostet Zeit und auch Arbeit beim Überprüfen, ob es wirklich stimmig (im Sinne von authentisch, wahrhaftig) ist was dort an Information steht.
Die wenigsten Leute erlauben sich die Mühe, sich umzusehen im Web und dort nach weiterführenden Informationen zu aktuellen Themen suchen.
Das Argument, dass immer seriös und unaufgeregt über Themen im Web berichtet werden sollte, sehe ich nicht so.
Das Vorherrschen von kühlem Denken und Verstand darf nicht zur Maxime in der Berichterstattung über bestimmte Themen werden.
Schon gar nicht beim Bloggen. Gefühl und Denken gehören zusammen.
Das Internet ist weder ein denk- noch ein gefühlsfreier Raum von Techokraten und kuscheligen Hochglanz-Communities. Auch wenn viele es so möchten.
Schon gar nicht darf es eine Fluchtburg sein, in der sich Menschen ein neues Zuhause einrichten, fern ab von Problemen, Sorgen oder Gewalt.
Struppi am 14.07.2009 · 22:07
Neda wurde erschossen. Das Video wurde bei Facebook auch mittlerweile gelöscht.
Ich brauch diese Hysterie und Geschwätzigkeit von solchen social Networks auch nicht. Zumindest nicht für Nachrichten. Mir reicht es einmal in der Woche den Spiegel zu lesen und im Netz Hintergrundinformationen, wie es GwenDragon schon sagte.
Aber die letzten größeren menschlichen Katastrophen wie in Mumbai oder Winnenden zeigen wie die Mechanismen in Zukunft (schöne neue Welt) funktioneren werden. Innerhalb weniger Minuten gibt es live Bilder aus Handy Kameras, die das Grauen auf jeden Computer übertragen und jeder will der erste sein der es gesehen hat und twittert munter drauf los. Und die Boulevardpresse schlachtet dann alles was im Internet zu finden ist aus.
Das befriedigt unsere Gier nach Schlagzeilen und an die Opfer denkt niemand.
Die Gefahr dabei ist, dass die Menschen nicht mehr erkennen, wo die Grenze zwischen notwendiger Öffentlichkeit und Sensationsgeilheit ist. Aber wer schon mal an einem Unfall auf der Autobahn vorbeigefahren ist weiß, was den meisten Menschen wichtiger ist.
Thomas Scholz am 14.07.2009 · 22:49
@Struppi:
Das geht mir zu weit. Diejenigen, die beispielsweise die Opfer des Amoklaufes in Winnenden am ekelhaftesten ausgeschlachtet haben, waren gerade die »klassischen« Medien. Die Blog- und Twitter-Szene hat hier größtenteils viel medienkompetenter und zurückhaltender reagiert.
Das steigende Tempo, in dem wir mit Informationen versorgt werden, hat gewiß dazu geführt, daß wir kaum noch Zeit haben, uns von einem Ereignis berühren zu lassen, eine Sensation im Sinne des sensus zu erfahren. Aber ist das nur schlecht?
Ich mag es, jetzt aus viel mehr Informationen wählen zu können als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Ohne eine stabile innere Distanz wäre das nicht auszuhalten. Diese Distanz sehe ich nicht als Rückschritt, eher als Anpassung. Zum Problem wird sie nur, wenn sie permanent steht. Doch das tut sie nicht. Bei niemandem.
Der Fehler bei Facebook liegt ja gerade darin, daß nur der innere Abstand technisch abgebildet wird; deshalb geht es auch so deutlich am echten Leben vorbei. Wir können und müssen für solche Fälle wach bleiben; deshalb dieser Text. Ein Resignieren finde ich zu … einfach.
Den Link habe ich jetzt entfernt. War vielleicht ohnehin keine gute Idee.
Anonymous am 15.07.2009 · 12:48
@Struppi:
Nicht alle Menschen sind so gierig nach dem Grauen.
Ich finde ein solches „Ablichten“ per Mobiltelefon oder gar Videokamera nicht nur inakzeptabel, sondern auch die Verletzlichkeit von Menschen, die Intimsphäre missachtend.
Diese Pesudoreportermentalität, gefördert durch diverse Boulevarblätter und Magazine nebst Taschengeld für Knipser ist nicht besonders schön.
Mich graust diese Klickmich-auf’m-Handy-Mentalität ohne Respekt vor den Grenzen anderer schon länger.
Auch Profi-Reporter sollten Grenzen der Menschlichkeit kennen, lassen sie aber auch oft im Tagesgeschäft vermissen. Winnenden ist doch nicht das erste Mal. Wenn ich da an Gladbeck denke, wo alle Medien die Entführer auch noch angestachelt haben, eine Geisel ermordet wurde, graust es mir heute noch.
Ich möchte nicht in die Medien geraten bei irgendetwas persönlichem.
GwenDragon am 15.07.2009 · 16:33
>Anonymous schrieb am 15.07.2009 12:48:
Das war ich.
Irgendwie wurde trotz Cookie mein Name nicht eingetragen.
Thomas Scholz am 15.07.2009 · 16:39
@GwenDragon: Das könnte daran liegen, daß ich neulich WordPress aktualisiert habe. Dabei sind vielleicht die alten Cookies verfallen.
Ich hab dich aber auch so erkannt. ☻