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Begründe nichts

In seiner These zur Tribunalisierung der Lebenswirklichkeit stellt der Philosoph Odo Marquardt eine spannende Behauptung auf: Seit Leibniz in der Theodizee Gott selbst vor das Gericht der Vernunft gestellt hat, breitet sich in unserer Kultur ein Rechtfertigungsdruck aus, den wir schon so verinnerlicht haben, daß wir ihn als selbstverständlich behandeln.
Wir begründen, was wir tun, als stünden wir vor Gericht. Ungefragt. Ständig.

Kleine Übung fürs Wochenende: Begründe nichts. Sag nicht einmal »weil«, »denn« oder »daher«, wenn du nicht mußt.

9 Kommentare

  1. Markus Möller am 23.01.2010 · 13:32

    Oh ja, das muss ich mir zu auch mal zu Herzen nehmen.

    Vielleicht sollte ich mir das mal ausdrucken und bei der Beantwortung von Support-Anfragen zuvor immer erst noch mal durchlesen.

  2. Thomas Scholz am 23.01.2010 · 13:42

    @Markus Möller: Hehe, ich kann mir gut vorstellen, wieviel Text du da einsparst.
    Wirklich schwer wird das in der gesprochenen Sprache. Ich habe ein paar Tage gebraucht, bis ich das sicher hinbekommen habe. Spannende Selbsterfahrung.

  3. Timo am 23.01.2010 · 16:07

    Sehr schöne Übung, danke ☻

  4. Klaus am 24.01.2010 · 15:18

    ich begründe auch zuviel, vor allem gegenüber Menschen, die ich nicht so kenne (Kunden, Begegnungen auf der Strasse, etc.).

    Es wäre schön wenn ich das besser differenzieren könnte.
    Gegenüber der Familie würde ich mehr begründen, als bei Freunden. Bei Freunden mehr als bei den Flüchtigen.

    Das ist aber nicht so leicht.

    Wirklich schlimm ist das aber auch nicht.
    Wenn ich das super hinkriegen würde, könnte ich ja in dem Punkt nicht mehr über mich selber grinsen oder lachen. ;)

  5. Thomas Scholz am 25.01.2010 · 00:40

    @Klaus:

    Gegenüber der Familie würde ich mehr begründen, als bei Freunden. Bei Freunden mehr als bei den Flüchtigen.

    Ich glaube, hierin liegt ein schönes Paradox: Gerade denjenigen gegenüber, die deine Motive am leichtesten selbst erraten könnten, erzählst du sie am ausführlichsten. Natürlich haben ihre Urteile über dich zumeist auch die wichtigsten Konsequenzen.

  6. Klaus am 25.01.2010 · 07:23

    Natürlich haben ihre Urteile über dich zumeist auch die wichtigsten Konsequenzen.

    jep, und deshalb tue ich es auch.

    Die Angst unliebsamen Konsequenzen ist größer als das Vertrauen in ihr Wissen über mich. :-)

  7. GwenDragon am 25.01.2010 · 15:10

    Der Begründungszwang ist möglicherweise eine soziale Unterwerfungsgeste.

    Dem Gegenüber sozial unterlegene haben verschiedenste Möglichkeiten sich klein zu machen; Sprache, Mimik, Gestik, Haltung bieten da viel an zur Selbstverzwergung, unabhängig davon, welches Geschlecht die Person hat.

  8. Ingo am 05.02.2010 · 00:15

    @Gwen: Das Gegenteil dürfte der Fall sein - mit (irgend)einer Begründung bekommt man viele Sachen durch, auch wenn der "Grund" keiner ist. Es gibt Studien, die das nachweisen. Bsp: Schlange am Kopierer "Kann ich mal vor, ich muß etwas kopieren" funktioniert fast immer.

  9. GwenDragon am 05.02.2010 · 11:49

    Ingo schrieb:

    Es gibt Studien, die das nachweisen. Bsp: Schlange am Kopierer "Kann ich mal vor, ich muß etwas kopieren" funktioniert fast immer.

    Das dreiste Vortäuschen von Hilflosigkeit, irgendeiner Art Bedürftigkeit, also einem unterlegenen Sozialzustand, gehört allerdings auch zu Tricks. Da wagt niemand jemand anderes anzugreifen, solange die Begründung stimmig ist.
    Es wird den Leuten viel unsinnige soziale Interaktion aufgezwungen in ihrem Leben.

    Auch der Ruf „Lassen sie mich durch, ich bin Arzt” wirkt wahre Wunder. Helfende Halbgötter genießen Vorrang.
    Ob der weiße Kittel der Medizinerzunft und der Kurzlaut Dr. dieser Menschen gar mit dem Silberrücken des Gorillas und seinem drohenden Kehllauten vergleichbar ist? ☺
    Honny soit…