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Stirbt die Handschrift?

Ich habe zweimal Schreiben gelernt. Zuerst auf die leichte Art: Ich habe durch Raten und Fragen herausgefunden, was die einzelnen Buchstaben bedeuten, dann habe ich aus dem Buch »Peter und der Wolf« einzelne Worte abgeschrieben und neu kombiniert, bis ich eigene Sätze zustandebrachte. Diesen Ursprung sieht man meiner Handschrift bis heute an: Die einzelnen Buchstaben stehen meistens wie in gedrucktem Text nebeneinander. Sie sind nur dann verbunden, wenn ich so schnell schreibe, daß ich den Stift nicht vom Blatt hebe.

Zwei Jahre später kam ich in die Schule. Bald ergab sich eine Situation, die mein Verhältnis zu jeder Art von Autorität dauerhaft bereinigte: Ich hatte mir ein Buch mitgebracht, das ich immer dann aufschlug, wenn mich der Unterricht langweilte. Meine Klassenlehrerin nahm es mir irgendwann weg – sie forderte, ich solle mich am Unterricht beteiligen. Stoff: das große »O«.

Wenn man eine offensichtlich schwachsinnige Entscheidung getroffen hat, dann hat man zwei Optionen: 1. Man korrigiert sich. 2. Man packt noch viel mehr Schwachsinn obendrauf und konstruiert so eine Realität, in der die erste Entscheidung nicht mehr als schwachsinnig gilt.

Sie nahm den zweiten Weg: Ich mußte noch einmal Schreiben lernen. Diesmal mit der rechten Hand. Das war die schwere Art.

Ich bin daran erinnert worden durch einen Artikel der BBC. Hier heißt es:

A century from now, our handwriting may only be legible to experts.
For some, that is already the case.

Heute habe ich auf beiden Seiten eine grauenhafte Handschrift, die ich selbst nach wenigen Tagen kaum noch lesen kann. Ich käme nie auf den Gedanken, dieses Gekrakel in eine Computerschrift umzuwandeln.

Ich benutze für kurze Texte meistens die rechte Hand, bei – sehr selten gewordenen – langen Texten wechsle ich immer mal. Die Form ist auf beiden Seiten nahezu identisch.

Im Alltag schreibt kaum noch jemand mit der Hand: Einkaufszettel, Glückwunschkarten, hier und da eine Unterschrift – aber sonst? E-Mails haben den klassischen persönlichen Brief de facto abgelöst; Geschäftsbriefe, Rechnungen und Behördenpost schreibt auch niemand mehr per Hand. Bleibt noch der Liebesbrief. Aber mal ehrlich: Wie oft schreibt man den?

Eine kurze, vollkommen repräsentative Umfrage in meiner Skatrunde – hier führe ich per Hand die Punktliste – brachte zwei weitere Einsatzgebiete für Handgeschriebenes ans Licht: Die eine schreibt auf der Arbeit Gesprächsprotokolle mit der Hand, tippt sie aber später ab. Der andere – ein Physiker – rechnet seine Differentialgleichungen mit Stift und Papier, prüft das Ergebnis aber später nochmal am Computer.

Auch ich benutze die Handschrift nur noch als Vorstufe zum »richtigen« Computertext: An allen Orten, die ich regelmäßig heimsuche – Bett, Bad, Küche – habe ich Ringbücher im Format A5 oder A6 liegen, um meine permanente Ideenflut zu entladen. Einige dieser Ideen tippe ich ab, und davon wiederum münden sehr wenige in konkrete Texte oder Projekte.
Längere Texte aber schreibe ich nie per Hand. Um so seltsamer finde ich, daß die automatisierte Deutung meiner Handschrift in so vielen Punkten zutrifft.

Ich denke, daß Handgeschriebenes langfristig wirklich aussterben wird. Wir haben schon Methoden der digitalen Signatur, die schwerer zu fälschen sind als eine Unterschrift. Unsere technischen Schreib- und Lesegeräte werden immer besser und billiger; sie haben längst ihren Platz im Schulunterricht gefunden und werden hier bestimmt mehr und mehr Raum einnehmen.

Ist das gut oder schlecht? Schwer zu sagen. Ich habe meine Mühe beim Schreiben immer als Defizit wahrgenommen, aber ich bin auch in einem Kontext aufgewachsen, in dem die Handschrift noch als normale Kulturtechnik galt. Wenn diese Technik irgendwann nicht mehr gebraucht und genutzt wird, werde ich nur den Verlust der wirklich schönen Handschriften bedauern. Aber die hat schon heute kaum noch jemand.

Was, wie oft und gerne schreibt ihr noch mit der Hand? Wird diese Technik in 100 Jahren komplett verschwunden sein?

8 Kommentare

  1. frag-mich-doch.net am 15.03.2009 · 14:32

    Der Test ist ja wirklich erstaunlich, ich wusste zwar, dass man aus der Handschrift einiges herauslesen kann, aber dass es so gut passt?
    Ich für meinen Teil schreibe auch eher weniger, nur das nötigste oder eben Telefonnotizen. Das hatte sich schon während der Schulzeit herauskristallisiert, da hat man sich halt mal den Hefter mit den Mitschriften der Banknachbarin ausgeliehen und fleißig abkopiert. Weil man lieber dem Lehrer gelauscht hat, statt mitzuschreiben...

  2. David am 15.03.2009 · 18:44

    Also ich möchte nicht auf die Handschrift verzichten. In Vorlesungen kann man garnicht anders, als auf Stift und Papier zu setzen. Ich tippe zwar relativ schnell, auch mit 10 Fingern, aber nichts ist schneller als Handgeschriebenes. Und nach einigen Wochen Übung, schreibt man auch leserlich. Das lässt aber auch nach einigen Wochen Pause wieder nach. Also üben, üben, üben.

  3. Thomas Scholz am 15.03.2009 · 19:01

    @frag-mich-doch.net:
    Solche Tests bringen meistens »angenehme« Ergebnisse zustande, die man gerne als zutreffend anerkennt. Dennoch ist es immerhin Lächeln wert.

    @David: Ich habe im Studium selbst bei Vorlesungen nur Stichpunkte aufgeschrieben.

    Und jetzt … wozu noch üben? Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis für gesprochene Worte – bis ich am Rechner sitze, reicht das immer. Ich brauche diese Fähigkeit kaum noch.

  4. Gerhard Tischer am 15.04.2009 · 18:16

    Die Handschrift kann und darf nicht aussterben, nicht im schulischen Bereich, als auch später im Erwachsenenalter.
    Die Handschrift ist Basis für individuelles Lernen, Erkennen von Regeln, Struktur, die Handschrift ist Basis für Handwerk,
    die Handschrift sollte sich schon in der Schulzeit aus der Kinderhandschrift in die Erwachsenenhandschrift entwickeln.
    Die Blockschrift und die sogenannte Vereinfachte Ausgangsschrift sind für die Kinderhandschrift nicht geeignet.Kinderhandschrift muß fliessen, Bewegung im Raum...., der Anschwung, Linkshänder muß man auch links schreiben lassen, Die Handschrift ist Basis für demokratische
    Denken, Verhalten, später mehr ich muß mal eben im Bremer
    Bürgerpark joggen, Handschrift ist übrigens auch Bewegung
    im Raum, Sport und Musik, der Umgang mit der Zeit.... usw....

  5. wella am 16.06.2009 · 14:24

    Es ist doch langweilig immer nur dieses Tippgeräusch im Ohr zu haben, wenn man Handschriftlich etwas schreibt ist es doch viel persönlicher..
    In meiner persönlichen Sicht, finde ich es teilweise unhöflich wenn man nur emails und sms schreibt aber zum schrift dem einfachsten auch wenn es länger dauert zum übermitteln einfach bei seite legt und sich auf die technik verlässt.
    kein wunder dass die jugend von heute .. A zu übergewichtig wird und nicht mehr weis was sie machen sollen.. zudem kann man nicht alles was einen bewegt und was man fühlt einfach mal so hin tippen.
    wo bleibt denn da noch ein wink für den der es liest, die linienführungen, das absetzten bzw. ansetzten der feder.. trägt doch zum geschriebenen inhalt mehr bei - als wenn man nur diesen sterilen text vor sich auf dem monitor hat.

  6. GwenDragon am 16.06.2009 · 19:26

    Sicher plädiere ich auch für die Handschrift, wenn sie denn lesbar ist.

    Ich tue mich seit meiner Schulzeit schwer damit, schreibe Blockschrift, weil einfach die meisten Schreibwerkzeuge meine Schreibhand verkrampfen, das war schon immer so.

    Deswegen ist eine mechanischen Schreibmaschine nebst Internet eine Befreiung für mich gewesen und ist es immer noch.

    Ich bin aber im Grunde meines Herzens eine Freundin des schönen Drucks, besonders Bleisatz ist in seiner Ausprägung schön.

    Wenn Schönes und Schrift als Kombination, dann selbst was Kalligraphisches erstellen.

    @Gerhard Tischer

    Die Handschrift ist Basis für demokratische Denken, Verhalten,

    Ähm, dem Denkstrang kann ich nicht folgen.
    Was hat denn Demokratie mit Handschrift zu tun?
    Magst du das bitte näher erläutern?

    Mit drachigem Gruß
    GwenDragon

  7. Anonymous am 12.07.2009 · 22:32

    wie ja schon bemerkt wurde - transportiert die handschrift ja noch mehr als nur allein den wortinhalt --

    gruss-

  8. KnoxonK am 07.03.2011 · 20:23

    Ich muss zugeben ich selbst schreibe in Vorlesungen inzwischen mit dem Laptop mit.
    Allerdings glaube ich trotzdem nicht, dass die Handschrift im Bildungsbereich aussterben wird. Was die Uni angeht muss ich da fast schon ein leider dran knüpfen, da mir bei Klausuren prinzipiell das Handgelenk verkrampft...